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„Wohin bringt ihr uns“ - Gedenkveranstaltung für die Bottroper Opfer des Euthanasiebefehls

Bottrop, 1. September 2009: Heute jährte sich der Euthanasie-Befehl Adolf Hitlers, der über 200.000 Menschen mit Behinderungen den Tod brachte, zum 70. Mal. Über Jahrzehnte sind diese Verbrechen in Deutschland verdrängt und die Opfer vergessen worden. Dies galt auch für die Bottroper Opfer der Euthanasie und Zwangsterilisationen.

Das Diakonische Werk Gladbeck-Bottrop-Dorsten hatte daher gemeinsam mit engagierten Bottroper Bürgerinnen und Bürgern eine Projektgruppe ins Leben gerufen. Ein erstes Ziel der Projektgruppe „Euthanasie-Opfer in Bottrop“ war es, die Namen der betroffenen Bottroper Opfer zu recherchieren: „Wir wollen die Opfer aus der Namenlosigkeit des Vergessens herausholen“, so Johannes Schildmann, Vorstand des Diakonischen Werkes.

Dank der sorgfältigen Vorarbeiten des Institutes für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Münster und der Mithilfe von Prof. Dr. Bernd Walter konnten tatsächlich die Namen der Bottroper Euthanasieopfer ermittelt werden.

Den Auftakt machte heute eine zentrale Gedenkveranstaltung, die kurzfristig aufgrund einer schlechten Wetterprognose vom Stadtgarten ins Quadrat verlegt werden musste. Dort wurden die namentlich bekannten 89 Bottroper Opfer der Euthanasie erstmals genannt.

Schülerinnen und Schüler der Bottroper Marie-Curie-Realschule sowie Mitglieder der Projektgruppe erinnerten mit der Verlesung der Namen an die Bottroper Opfer des Euthanasiebefehls. „Wir wollen der Opfer dort gedenken, wo diese Menschen wirklich gelebt haben“, erläuterte Pfarrer Johannes Schildmann.

Für jedes der 89 Opfer wurde ein Gesteck mit seinen persönlichen Daten vorbereitet. Dabei beschränkten sich die Mitglieder der Projektgruppe auf die Nennung des Vornamens und des abgekürzten Nachnamens. Dies war eine Voraussetzung des Landschaftsverbandes, um überhaupt Einsicht in die Akten zu bekommen und entspricht dem ethischen Standard für Datenschutz, den eine Behörde der öffentlichen Hand im Regelfall anwendet. „Wir sind für die Kooperation des Landschaftsverbandes sehr dankbar und haben in die Namensverkürzung eingewilligt, weil wir glauben, dass die Symbolkraft der Nennung der Opfer durch die Verkürzung der Nachnamen nicht geschwächt wird“, so Johannes Schildmann.

Zeitzeugin Dorothea Buck musste leider ihr persönliches Mitwirken krankheitsbedingt absagen. Stellvertretend für die 91-jährige Zeitzeugin verlas Karin Opitz ihre bewegende Rede, die unter dem Motto stand: „aus der Geschichte lernen“.  

Das Mitwirken des scheidenden Bottroper Oberbürgermeisters Peter Noetzel unterstrich das gemeinsame Ansinnen der Bottroper Bürgerinnen und Bürger, die Opfer nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen, sondern ihrer zu gedenken.
Auch der international renommierte Cellist Thomas Beckmann, der sich im Vorfeld sehr für die Veranstaltungsreihe begeistert hatte, sagte kurzfristig krankheitsbedingt ab. Für Ihn sprang die Cellistin Anne Krickeberg in die Bresche und wusste mit ihren exzellenten Cello-Improvisationen zu gefallen.

(Die Texte zu den einzelnen Reden finden Sie am Ende der Seite)

"Himmel und Mehr" - Film über das Leben und Werk von Dorothea Buck

Am Mittwoch, den 2. September zeigte das Kommunale Kino Bottrop den eindrucksvollen Film „ Himmel und mehr“ über das Leben und Werk der Bildhauerin und Lehrerin Dorothea Buck, die selbst Opfer der Erbgesundheitsgesetze der Nazis wurde und als Psychoseerfahrene Vorkämpferin einer alternativen Psychiatrie in Deutschland ist. die Besucher kamen aus ganz NRW und zeigten sich sichtlich beeindruckt von der Person Dorothea Buck und ihrem Leben.

 

Setzung von Stolpersteinen durch den Künstler G. Demnig - 31. Oktober, ab 11 Uhr Gungstraße 67, Bottrop

Am Samstag, den 31. Oktober, werden Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig für Opfer in Bottrop verlegt, wie zum Beispiel ein Stolperstein vor dem Haus in Bottrop-Welheim in dem Helene Rednau, die auch Opfer der Euthanasie wurde, gelebt hat.

"Lebensunwert - zerstörte Leben" Eröffnung der Wanderausstellung zur Euthanasie und Zwangssterilisation  - 16. November bis 27. November, Martinskirche, Am Pferdemarkt, Bottrop

Am Montag, den 16. November um 19 Uhr wird die Ausstellung "Lebensunwert - zerstörte Leben" in der Martinskirche eröffnet. Hochrangige Gäste, wie Prof. Walter, anerkannter Experte der Euthanasieforschung in Westfalen werden die Eröffnung durch Vorträge begleiten.  Die Wanderausstellung wird um 5 Tafeln ergänzt, die sich zum Beispiel mit dem Schicksal einzelner Bottroper Opfer auseinandersetzen.

Eigens für die Veranstaltungen bietet die Projektgruppe Schulen didaktische Materialsammlungen und Lehrerfortbildungen an. Interessierte Lehrerinnen und Lehrer können vorab unter der Telefonnummer 02041 70 628 60 speziell geführte Termine für die Ausstellung vereinbaren.

"Ja zur Menschenwürde - Ja zur Unvollkommenheit des Menschen!" Ökomenischer Gottesdienst mit anschließender Podiumsdiskussion - Mittwoch, 18, November 2009, 18:00 uhr, Martinskirche, Am Pferdemarkt

Die Veranstaltungsreihe findet am Buß- und Bettag mit einem ökumenischen Gottesdienst und einer anschließenden Podiumsdiskussion, bei der zum Beispiel auch Prof. Dr. Dr. Vollmer vom medizinethischen Institut in Bochum teilnehmen wird, zu aktuellen Fragen des Lebenswertes und der -würde ihren Abschluss.

Reden zur Gedenkveranstaltung am 1. September im Quadrat:

Liebe Freundinnen und liebe Freunde! Liebe Gäste!

So bedrückend der Anlass unseres Erinnerns an die „Euthanasie-Opfer aus Bottrop ist und an die Ärzte, die sie während des Nazi-Regimes zu Tode brachten, so ermutigend ist die Tatsache, dass überhaupt an sie gedacht wird. Und dass Herr Pfarrer Schildmann als Vertreter der Diakonie uns zu diesem Gedenken einlud.

„Aus der Geschichte lernen – Für den Frieden sorgen!“ heißt das Motto der Arbeit der „8.Mai-Initiative Bottrop“.Wie kann man aus der Geschichte lernen? Im hiesigen Nordrhein-Westfalen wirkten damals zwei als vorbildlich bekannt gewordene Theologen. In der katholischen Kirche war es Bischof Clemens August von Galen in Münster. Seine Protest-Predigt gegen die Patientenmorde am 03.August 1941 – vor 68 Jahren - führte dazu, dass Hitler 3 Wochen danach, am 24.August 1941 die Vergasung der Psychiatrie-Patientinnen und –patienten einstellen ließ. Die Patientenmorde gingen allerdings nun als so genannte „wilde „Euthanasie““ bis zum Ende des Krieges 1945 weiter. Die letzten Forschungsergebnisse gehen nach dem Historiker Prof. Hans Walter Schmuhl von insgesamt fast 300.000 vergasten, vergifteten, zu Tode gehungerten Anstaltspatientinnen und patienten und Heimbewohnerinnen und –bewohnern aus. Davon rund 80.000 Patienten aus polnischen, französischen und sowjetischen Anstalten.

 In unserer evangelischen. Kirche war es der junge Pfarrer Ernst Wilm aus Mennighüffen in Westfalen. Im Winter 1940/41 appellierte er in Hamm an die Vertrauensmänner der Westfälischen Bekennenden Kirche. Als Student hatte er in Bethel als „Bruder mit der blauen Schürze“, wie es damals hieß, viele Patienten unmittelbar kennen gelernt. Es wusste daher, wer die Menschen waren, die wegen einer Behinderung als „lebensunwert“ ermordet werden sollten. Er beschwor geradezu seine Amtsbrüder der „Bekennenden Kirche“ ihre Gemeinden über diese Verbrechen zu informieren und für die vom Tode Bedrohten zu beten. Ich zitiere einen Ausschnitt aus seiner damaligen Rede.

Zitat:„Ja, es muss etwas geschehen. Die Kirche darf nicht schweigen, aber sie muss mal als Ganze reden – alle Pastoren gemeinsam müssen das Wort nehmen- nur dann kann es etwas nützen - sonst nicht – oder wenigstens die B:K! (die Bekennende Kirche)

Wir sind unseren Kranken und denen, die für sie eintreten, das Mittragen und die Fürbitten schuldig - …, es sind unsere Kranken, es sind die geringen Brüder des Herrn Christus – dass es nicht heißt: Ich bin in den Händen der Mörder gewesen, und ihr habt nur mit dem Achseln gezuckt. Das ist das Mindeste, dass die christliche Gemeinde um dieser Not willen betet: Dazu muss sie Kenntnis und Unterweisung haben!“ (Zitat Ende)

 Viele von Ihnen werden diese, von Ernst Wilm angeführte Bibelstelle kennen, als Jesus am Ende seines Lebens im so genannten „Weltgericht“ nur unserer Solidarität mit den „Geringsten“ als einzigen Maßstab für die Annahme und Zukunft des Menschen fordert. Er sagt hier: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern ergänze ich), das habt ihr mir getan!“ Nichts anderes verlangt Jesus hier am Ende seines Lebens. Es bleibt unverständlich, warum diese zentrale Forderung Jesu der Solidarität mit den „Geringsten“ bis heute zu wenig ernst genommen wird. Zu diesen „Geringsten“ gehören heute auch die Millionen an der Armutsgrenze lebenden Kinder in Deutschland. Wie sollten sie Gott als den, wie von Jesus gelehrten, liebevollen „Vater“ erkennen können, der ihnen nicht einmal das zu ihrer Entwicklung Notwendige geben kann, weil Gott als Geist ohne einen Mund zum Reden und ohne Hände zum Handeln nur durch uns Menschen wirken kann.

Man kann von diesen Kindern nicht erwarten, dass sie als Erwachsene solidarischer mit den heute bestimmenden, dann alten Menschen umgehen werden, wie diese mit Ihnen als Kindern verfahren sind. Dieser Kinderarmut fehlt das „Lernen aus der Geschichte“. Denn die Folgen von Armut und Bildungsferne erlebten wir bereits in den Diktaturen des letzten Jahrhunderts. Was wäre gewesen, wenn Ernst Wilms Appell befolgt worden wäre? Wenn alle Pastoren zur allgemeinen Information über die Patientenmorde in allen Kirchen nur eine kurze Fürbitte gesprochen hätten. So kurz, dass sie nicht als „Kanzlermissbrauch“ hätte bestraft werden können. Wie z.B. „Herr, behüte unsere Anstaltspatientinnen und -patienten vor dem Tod“! Ob die Machthaber gewagt hätten, auf die Patientenmorde die Judenmorde folgen zu lassen, wenn sie wieder mit einer Bekanntgabe dieser Verbrechen durch eine kurze Fürbitte – nur für das Leben der Juden – in allen Kirchen hätten rechnen müssen? Allein – mit nur wenigen anderen Theologen – konnte er nichts bewirken. Er kam in KZ nach Dachau und hat es trotzdem nie bereut, dass er sich für die vom Tode bedrohten und Anstaltspatientinnen und –patienten eingesetzt hat. Manche von Ihnen werden ihn noch als Präses von Westfalen erlebt haben.

Um Wirklich „Aus der Geschichte zu lernen“, darf auch nicht verschwiegen werden (Zitat):, dass „In den Anstalten der inneren Mission, so auch in Bethel… das Gesetz mit besonderer Härte durchgesetzt worden ist.„Die Leitung der Inneren Mission hatte sich frühzeitig für ein Sterilisationsgesetz ausgesprochen“. (Zitat Ende)(„Zwangssterilisiert – Verleugnet – Vergessen“, 1984, Bremer Gesundheitsbehörde)

Gemeint ist hier die „Fachkonferenz für Eugenik“ der Inneren Mission, der heutigen Diakonie, in Treysa im Mai 1931, also 2 Jahre vor dem NS-Regime. Pastor Fritz v. Bodelschwingh und 9 andere theologische Leiter evangelisch kirchlicher Anstalten hatten ein Sterilisationsgesetz gefordert, gegen den Rat des leitenden Betheler Chefarztes von 1930 bis 1933: Dr. Carl Schneider. Pastor Fritz v. Bodelschwingh begründete seine Sterilisationsforderung sogar mit seinem „Gehorsam gegen Gott“ und als „mit dem Willen Jesu konform“. (Protokoll) Sich auf Gott zu berufen, wenn man über den Unwert anderer richten zu müssen glaubt, wirkt auf mich wie nach dem Motto: „Mit Gott gegen die Minderwertigen“! Und so habe ich es in Bethel 1936 mit gerade 19 Jahren während Bodelschwingh`s Leitung auch erlebt, weil wir unter Bibelwerten ohne ein einziges ärztliches und seelsorgerliches Gespräch während meiner Zeit fort mit der Zwangssterilisation regelrecht überrumpelt wurden.

Zwangssterilisierte durften keine nicht sterilisierten Partner heiraten und keine höheren und weiterbildenden Schulen besuchen. Noch 1965 verhinderte Fritz v. Bodelschwing`s Neffe und späterer Betheler Leiter, Pastor Friedrich v Bodelschwingh, vor dem Wiedergutmachungs-Ausschuss, als hinzugezogener Experte unsere Rehabilitierung.

(Zitat):„Gäbe man den Sterilisierten selbst einen Entschädigungsanspruch, so werde nur Unruhe und neues schweres Leid über diese Menschen gebracht, die diese Dinge nicht übersehen können und in denen sich nunmehr – krankheitsbedingt – die Vorstellung festsetzte, sie müssten auf jeden Fall entschädigt werden….!“

(Zitat Ende) (Bremer Dokumentation,1984)

 Er wird ebenso wenig mit Zwangssterilisierten gesprochen haben, wie mit uns in Bethel auch nach dieser Maßnahme gesprochen worden ist. So mussten wir selbst herausfinden, welcher Operationen wir unterzogen worden waren. So sind insgesamt 350.000 – 400.000 als „minderwertig“ Zwangssterilisierte bis heute nicht rehabilitiert worden.

Was muss sich in der deutschen Psychiatrie ändern, damit Zwangssterilisationen und Patientenmorde in Zukunft nicht wieder geschehen können? Diese Sorge scheint mir bei der fast ganz fehlenden Aufarbeitung dieser Ausrottungsmaßnahmen gegen uns berechtigt. Wenn z.B. immer weniger Arbeitende für immer mehr alte und behinderte Menschen sorgen müssen, liegt es nahe, auf diese bewährten Methoden zurückzugreifen.

Am wichtigsten scheint mir das Gespräch zwischen Patienten und Mitarbeitern in der Psychiatrie zu sein. Ein Gespräch zwischen Psychiatern mit ihren Patienten fehlte damals völlig, weil die gesamte deutsche Psychiatrie von Emil Kraepelin (1856 – 1926) und seinen Schülern bestimmt wurde. Da sie nicht mit ihren Patienten sprachen, sondern nur ihre Symptome beobachteten, kannten sie die Lebensgeschichten ihrer Patienten auch nicht und das, was zu ihrer Erkrankung geführt hatte. Das wollten sie auch gar nicht wissen, weil sie Mediziner sein wollten. Darum durfte die Psychose, wie die Schizophrenie, nur eine „erbliche, unheilbare Gehirnkrankheit“ sein. Als solche fiel sie unter die „Euthanasie“ – Bestimmungen. Auch die Klinik-Pfarrer zitierten in Bethel – und sicher nicht nur dort- nur Bibelverse an unseren Betten ohne ein einziges persönliches Wort mit uns zu sprechen. Menschen, mit denen man nicht spricht, kann man auch nicht als Mitmenschen kennen lernen.

In Bethel, wie in den meisten anderen kommunalen und kirchlichen Anstalten, lagen wir „Geisteskranken“, wie man uns nannte, in geschlossenen Stationen auch nur untätig in den Betten ohne irgendeine Beschäftigung und Abwechslung. Manche Monate oder sogar Jahre lang. Auch der gesündeste Mensch wäre bei dieser erzwungenen Verkümmerung allmählich zugrunde gegangen.

Gegen diese psychiatrische und theologische Gesprächlosigkeit setzten der Psychologe und heutige Professor Dr. Thomas Book und ich vor 20 Jahren an der Hamburger Universitäts-Psychiatrie unsere „Psychose-Seminare“, den so genannten TRIALOG. Hier besprechen Psychose-Erfahrene, Angehörige, Fachleute alle Fragen und Erfahrungen, die von diesen drei Gruppen ins Gespräch gebracht werden. Z.B. die Psychose als Aufbruch des normalen Unbewussten, um eine vorausgegangene Lebenskrise zu lösen, die wir mit unseren bewussten Kräften nicht lösen konnten. Oder die in Psychose häufigen unmittelbaren religiösen Erfahrungen. Oder die auffälligen Parallelen zwischen unseren Nachtträumen und psychotischen Erfahrungen.

Auch hier in Dorsten und in vielen Orten der Bundesrepublik, der Schweiz und in Österreich gibt es solche Psychose-Seminare. Inzwischen auch zu allen anderen seelischen Störungen. Auch Sie als Angehörige, Freunde und Interessierte können mitmachen. Sich schlau machen, um den Anderen, der uns unverständlich blieb, als gleichwertigen Mitmenschen zu erkennen und ihm so zu begegnen, scheint mir das zu sein, was wir aus der Geschichte lernen sollten.

 

Rede des Herrn Oberbürgermeisters Noetzel zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestags des Euthanasiebefehls am Dienstag, dem 01.09.2009 um 18.00 Uhr am Ehrenmal der Stadt Bottrop im Stadtgarten

(Es gilt das gesprochene Wort.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle sehr herzlich hier am Ehrenmal im Stadtgarten.

Meine Damen und Herren, wir sind heute hier hingekommen, um an Bottroper Bürgerinnen und Bürgern zu erinnern, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur wurden. Menschen unserer Stadt, die verschleppt und getötet wurden. Menschen, die zwangssterilisiert wurden. Doch anders als viele andere Opfer, deren Schicksal aufgeklärt wurde, deren Leidensweg nachvollzogen wurde, deren erlittenes Unrecht öffentlich anerkannt und betrauert wurde, wurde das Schicksal dieser Opfer in vielen Fällen verdrängt oder gar vergessen.

 Es sind die Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, die Opfer der Euthanasie wurden. Was Ihnen widerfahren ist, blieb im Dunkeln. Euthanasieopfer sind die unbekannten Opfer des Nationalsozialismus. An diese Menschen wollen wir heute erinnern. Wir wollen ihnen ihren Namen und ihre Identität zurückgeben. Wir wollen ihnen ihre Würde zurückgeben.

Meine Damen und Herren,

vor 70 Jahren gab Adolf Hitler in einem kurzen Schreiben die Anweisung, Menschen, die aufgrund unterschiedlicher Beeinträchtigungen als „lebensunwert“ eingestuft wurden, zu töten. Der so genannte „Euthanasiebefehl“ war Grundlage für die systematische Tötung von mehreren hunderttausend Psychiatriepatienten und behinderten Menschen. In zwei Phasen wurden von 1939 an Säuglinge und Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene mit erblichen Erkrankungen oder Behinderungen durch Giftspritzen oder Überdosen von Medikamenten umgebracht, vergast, erschossen, zu Tode gehungert oder durch mangelnde Pflege und ungeheizte Räume umgebracht.

Nach Protesten der Kirchen - ich erinnere hier an die als „Euthanasiepredigt“ bekannt gewordene Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen – wurde die Tötung in zentralen Tötungsanstalten 1941 eingestellt. Die Euthanasie aber wurde bis zum Kriegsende weitergeführt – an vielen Orten und mit einer unbekannten Zahl an Ermordeten. Opfer des Machtmissbrauchs wurden diejenigen, die gerade den stärksten Schutz des Staates benötigen: die schwächsten und hilfebedürftigsten Mitglieder der Gesellschaft.

Während seit Kriegsende zahlreiche Aspekte des Dritten Reichs aufgearbeitet wurden, ist der Umgang des nationalsozialistischen Regimes mit Behinderten noch immer ein wenig beachtetes Randthema.

Bis heute sind Schicksale ungeklärt, wissen Hinterbliebene nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen, wurden aus Unkenntnis die vorgetäuschten Todesursachen nicht in Zweifel gezogen.

Bis heute sind die genauen Umstände wenig bekannt, es gibt kaum Gedenkstätten und Mahnmale.

Meine Damen und Herren,

wir alle wissen, dass das erlittene Unrecht nicht wieder gut gemacht werden kann – für manche Verbrechen gibt es keine Wiedergutmachung. Was wir aber tun können, ist die Entwürdigung dieser Menschen zurückzunehmen, die Verbrechen an ihnen beim Namen zu nennen und sie vor dem Vergessen zu bewahren.

Ich weiß, dass dies für viele Opfer des Nationalsozialismus und ihre Angehörigen – ich spreche hier nicht nur von den Opfern der Euthanasie - von großer Bedeutung ist: die öffentliche Anerkennung ihrer Leiden, das Eingeständnis, dass sie unschuldig zu Opfern wurden, die deutliche Richtigstellung, dass Verbrechen an ihnen begangen wurden.

Auch hier in Bottrop wurden behinderte Menschen umgebracht oder zwangssterilisiert. Der Arbeitskreis „Bottroper Opfer der Euthanasie“ hat die Namen von 89 Bottroperinnen und Bottropern ermittelt. Die Verlesung der Namen, das Gedenken an dem Ort, an dem diese Menschen gelebt haben, lässt sie die Anonymität verlassen. Sie sind nicht länger 89 der über 200.000 Opfer, sondern Angehörige Bottroper Familien, Menschen, die hier ihre Heimat hatten, Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.

Das Allgemeine und schwer Fassbare, das Geschichtsbuchwissen, wird hier spürbar gemacht. Dort, wo es um die Schicksale einzelner Menschen geht, wird der Schrecken konkret, die Angst und Verzweiflung fühlbar. Die bange Frage „Wohin bringt Ihr uns?“ erreicht uns viel mehr, als abstrakte Zahlen es können. Es gibt Meinungen, die es für besser halten, die Vergangenheit ruhen zu lassen, einen Schlussstrich zu ziehen. Aber es ist nach wie vor wichtig, erreichbar zu sein für das Geschehene. Nur wenn wir erreichbar sind, können wir Lehren ziehen aus unserer Geschichte.

Das Verbrechen der Euthanasie hat Auswirkungen entwickelt auf unser Staatswesen und auf unser Gewissen. Unser Grundgesetz stellt die Menschenwürde mit Artikel 1 an vorderste Stelle: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Nie wieder soll der Staat seine Macht missbrauchen dürfen, um festzulegen, an welchen Kriterien sich Lebenswert bemisst. Bischof von Galen hat es in seiner mutigen Predigt von 1941 formuliert: „(Sie müssen sterben), weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den unproduktiven Volksgenossen gehören. (…) Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? (…) Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.“

Meine Damen und Herren,

unsere Verfassung legt fest, dass niemand mehr Leben für „unwert“ erklären darf. Doch wir sind es, die die verfassungsrechtlichen Werte mit Leben ausfüllen müssen. Sind wir aus unserer Geschichte klüger geworden? Manchmal regen sich Zweifel daran.

Noch immer werden Fälle bekannt, in denen behinderte Menschen von Angehörigen versteckt gehalten werden, weil sie sich ihrer schämen. Die gleichberechtigte Teilnahme von Behinderten an den Möglichkeiten unserer Gesellschaft ist nach wie vor eine Wunschvorstellung. Die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik führen dazu, dass Kinder mit erkannten Krankheiten oder Behinderungen gar nicht erst geboren werden. Der Wert von Leben wird allzu häufig daran bemessen, wie „regelgerecht“ es ist.

Doch ich denke auch an das Wort unseres ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau: „Geschichte kann auch gelingen.“ Darin drückt sich die Überzeugung aus, dass wir durchaus fähig sind, aus der Geschichte zu lernen. In der Bewertung von Leben sind wir, gerade in Deutschland, sensibel geworden.

Täglich stehen wir vor schwierigen rechtlichen, moralischen und ethischen Entscheidungen. Wie weit dürfen Genforschung und die Manipulation des menschlichen Erbgutes gehen? Unter welchen Bedingungen dürfen wir dem Wunsch schwerstkranker Menschen nachkommen, medizinische Behandlungen und lebensverlängernde Maßnahmen abzubrechen?

Wir treffen diese Entscheidungen nicht leichtfertig. Unsere Vergangenheit hat uns gezeigt, welche schrecklichen Konsequenzen daraus entstehen, wenn wir die Unantastbarkeit des Lebensrechts in Frage stellen. Wir setzen den Möglichkeiten der Wissenschaft sehr bewusst Grenzen – und nehmen dabei die Kritik der Fortschrittsfeindlichkeit in Kauf. Die Lehren der Geschichte haben wir sehr wohl verstanden. Doch das macht es nicht leichter, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Meine Damen und Herren,

ich zitiere noch einmal Johannes Rau: „Gedenken wäre eine leere Hülse, wenn es nicht begleitet würde von verantwortlichem Handeln.“ Das verantwortliche Handeln ist die große Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Lassen sie uns wachsam bleiben bei unseren Abwägungen. Wir stehen in der Verantwortung, die Grenzen auszuloten zwischen den Chancen und Freiheiten, die unser heutiges Wissen bietet, und der Verpflichtung zum unbedingten Schutz der Menschenwürde. Wir tragen die Verantwortung dafür, dass Geschichte gelingt. Möge uns das Gedenken an die Bottroper Opfer der Euthanasie daran erinnern.

 

Einleitungs- und Abschlussrede von Pfarrer Johannes Schildmann

(es gilt das gesprochene Wort)

Liebe Gäste und Teilnehmende an dieser Gedenkveranstaltung!

Heute - 70 Jahre nach Beginn der Mordaktion wollen wir zum ersten Mal der Bottroper Bürgerinnen und Bürger namentlich gedenken, die Opfer der Euthanasie wurden. Die Opfer der Euthanasie gehören zu den vergessensten, verlorensten und verdrängtesten Opfergruppen des Nationalsozialismus. Bis vor wenigen Monaten wusste niemand, wer aus Bottrop überhaupt Opfer der Euthanasie wurde. Wir wollen ihre Namen erinnern, ihrer gedenken. Wir tun dies als Mahnung für die Zukunft, dass solches nie wieder geschehen darf.

Im Namen des Vorbereitungskreises begrüße ich Sie alle zu dieser Gedenk- und Erinnerungsfeier. Wegen der ungünstigen Wetterprognose haben wir Sie vom Mahnmal im Stadtgarten hierhin in das Quadrat verlegt.

 Ich begrüße insbesondere die Angehörigen von Bottroper Euthanasieopfern. Ich begrüße Herrn Oberbürgermeister Noetzel, der im Namen der Stadt zu uns sprechen wird.

Ich begrüße Frau Karin Opitz, die die Rede von Dorothea Buck, die sie für heute geschrieben hat, leicht redigiert verlesen wird. Dorothea Buck selbst musste gestern wegen der akuten Verlechterung ihres gesundheitlichen Zustandes die Reise nach Bottrop absagen. Aber mit ihrer Rede hören wir die Worte einer der letzten lebenden Zeitzeugin und Betroffenen.

Ich begrüße Frau Anne Krickeberg, die für den schwer erkrankten Herrn Beckmann, dem wir von hieraus alles Gute und baldige Genesung wünschen, kurzfristig die musikalische Gestaltung übernommen hat. Sie wird vielen von uns von Konzerten, die sie auch in Bottrop schon gegeben hat, bekannt sein. Heute, am 1. September vor 70 Jahren begann das nationalsozialistische Deutschland unter Adolf Hitler mit dem Überfall auf Polen den schrecklichsten Krieg, den die Menschheit bis heute erlebt hat. Ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg, dem über 60 Mio. Menschen zum Opfer fielen.

Mein Dank gilt Frau Pohlmeier sowie den Schülerinnen der Janusz Korczak Gesamtschule, die die filmische Dokumentation dieser Veranstaltung übernommen haben sowie den Schülerinnen und Schülern der 10. Klasse der Marie-Curie-Realschule, die bei der Gestaltung dieser Feier mitwirken.

In zahlreichen Veranstaltungen im Herbst d. J. unter der Überschrift "Bottroper Veranstaltungen gegen das Vergessen", mit der Setzung von Stolpersteinen, Vorträgen, eine Wanderausstellung zur Euthanasie und Zwangssterilisation, einen Gottesdienst und einer Podiumsdiskussion soll des 70. Jahrestages des Euthanasiebefehls gedacht werden. Auch zu diesen Veranstaltungen sind Sie mit dem Flyer, den wir auf den Stühlen ausgelegt haben, herzlich eingeladen. Was geschah, muss in der Erinnerung bewahrt werden, damit es nie wieder geschieht!

Ich wünsche dieser Veranstaltung einen würdigen Verlauf.

 Heute, auf den 1. September vor 70 Jahren ist der Euthanasiebefehl Adolf Hitlers datiert. Er lautete: "Reichsleiter Buhler und Dr. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmende Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann." Hinter dieser zynisch verharmlosenden Sprache verbirgt sich der brutale Befehl zur systematischen Ermordung von fast 300.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Bereits Jahre vorher war mit den Zwangssterilisation von etwa 400.000 Menschen in Deutschland begonnen worden. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte es eine so große Gewalt- und Tötungsaktion gegen Menschen mit Behinderungen gegeben.

Abschussrede:

Wir haben - wenn auch in abgekürzter Form - zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt Bottrop überhaupt die Menschen namentlich benannt, die den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Für jeden und jede haben wi ein Gesteck angefertigt. Für jeden und jede ist eine Glocke des Glockenensembles der Martinskirche erklungen. Als Zeichen unseres Gedenkens und Erinnerns.

 Diesen Menschen, diesen 89 Bürgerinnen und Bürgern Bottrops wurde ihre Menschenwürde gleich zwei Mal genommen. Einmal, als die Unantastbarkeit ihres Lebens missachtet und ihr Leben auf grausame Weise vernichtet wurde. Ein zweites Mal, als sie vergessen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg, als alle, auch die meisten der betroffenen Familien wieder zur Tagesordnung übergingen und das Schicksal der Opfer im Dunkeln der Geschichte versank. Es gab auch hier in Bottrop keinen Ort und keine Gelegenheit bis heute, ihrer Namen und ihrer Schicksale zu gedenken.

Sie kennen das Wort: "Ein Mensch ist er dann ganz tot, wenn er vergessen wurde". Auch die Bibel drückt immer wieder aus, dass noch schlimmer als der Tod das Verschwinden des Namens eines Menschen von dieser Erde ist, wie es in einem alttestamentlichen Psalm heißt.

So erging es fast allen Euthanasieopfern. Sie wurden vergessen. In den meisten Familien und den Orten ihrer Herkunft. In unserer Gesellschaft und in der Politik. Erst in den 80-er Jahren wurde das Erinnerungstabu langsam aufgebrochen. Es entstanden in den ehemaligen Tötungsanstalten Mahn- und Gedenkstätten. Aber die liegen weit weg auf der schwäbischen Alb oder in den hessischen Bergen, in Sachsen oder Anhalt oder an anderen abgelegenen Orten Deutschlands oder Österreichs. Doch hier ist eine der Städte, in der diese Menschen geboren wurden und aufwuchsen. Hier in Bottrop haben ihre Familien gelebt und versucht, ihre Kinder trotz Erkrankungen und Einschränkungen ins Leben hinein zu begleiten. Von Bottrop aus sind sie in Anstalten in anderen Orten Westfalens gekommen. Die Eltern gaben ihre Kinder ab im Vertrauen darauf, dass sie dort gut versorgt, gepflegt, ärztlich behandelt und gefördert werden. Dieses Vertrauen wurde auf das schändlichste missachtet und missbraucht, in dem Ärzte, Pflegepersonal, Träger und viele Zu- und Mitarbeitende die Euthanasieverbrechen planten und die Patienten der Anstalten töteten.

Liebe Teilnehmende dieser Gedenkveranstaltung, keiner von uns kann diesen Menschen, denen mit ihrem Leben auch ihre Würde genommen wurde, die Würde des Lebens zurückgeben. Doch das können wir tun: Wir können ihnen die Würde des Gedenkens zurückgeben. Wir können Ihre Namen erinnern, wir können sie als Menschen wahrnehmen, die gelebt und geliebt, gehofft und gelitten haben.

Und wir können diese Erinnerung als Mahnung für die Gegenwart und als Aufruf für die Gestaltung der Zukunft verstehen.

Das tun wir heute an diesem Ort des Gedenkens und der Mahnung der Opfer der Gewalt im Stadtgarten unserer Stadt Bottrop. Dies tun wir mit den Gestecken und Kerzen und der Namensnennung - auch wenn die Nachnamen der Opfer aus Datenschutzgründen gekürzt wiedergegeben worden sind. Dies tun wir in wenigen Wochen mit der Setzung von Stolpersteinen auch mit voller Namensnennung für Menschen, die hier lebten und zum Opfer der Euthanasie wurden.

Unsere Verpflichtung ist es, die Erinnerung an die Unmenschlichkeit der Vergangenheit mit der nach vorne gerichteten Suche nach menschlichen Maßstäben für heute zu verbinden. Und das bedeutet: Nicht nur die Würde des Lebens, wie es das Grundgesetz bestimmt, sondern auch das Recht zu leben ist unantastbar. Kein wie auch immer gearteter Nutzen, keine wie auch immer definierte Nützlichkeit darf das Recht und den Wert menschlichen Lebens bestimmen. Sonst kommen wir wieder dahin, dass unser Leben und unser Lebenswert abhängig wird von fremdbestimmten Kriterien: Von Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Schönheit und Erfolg oder wie auch immer diese Kriterien heißen mögen. Der Wert menschlichen Lebens liegt allein in seiner Geschöpflichkeit, in seinem Sein und Dasein als Menschen oder christlich gesprochen, in seiner Gottesebenbildlichkeit. Dies spricht jedem Menschen einen Wert und eine Würde zu, die sein Leben unverfügbar, seine Existenz unantastbar und seine Menschenrechte unteilbar machen.

Im Blick auf die Euthanasieopfer und in der Erinnerung an ihr Personsein und ihren Leidensweg müssen wir für alle Zukunft eins festhalten: Menschliches Leben und Zusammenleben darf nicht geprägt sein durch den sozialdarwinistischen Kampf ums Überleben, von einer sogenannten "natürlichen Auslese", von einer vermeintlichen Überlegenheit des Stärkeren. Was die Menschlichkeit unseres Lebens und jeder Gesellschaft ausmacht, ist nicht eine wie auch immer zu definierende Leistungskraft, sondern eine Kultur der Achtung des Schwächeren, des Mitgefühls für die Belasteten, die Unterstützung des Hilfsbedürftigen und die Einsicht in die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit allen Lebens. Und daraus abgeleitet eine politische Kultur der Gerechtigkeit, die allen Menschen Lebens- und Menschenrechte garantiert.

Darin drückt sich also die wahre Menschlichkeit jeder Kultur aus, wie sie das Miteinander von Stärkeren und Schwächeren und die Grundsätze der Solidarität und Hilfe gestaltet.

Bisher gedenken wir in Bottrop der Opfer des Krieges und der Verfolgung. Jetzt können wir auch die Bottroper Opfer des Euthanasiebefehls in unser Gedenken einbeziehen. 

In dieser Nacht werden die Lichter, die wir für alle Bottroper der Euthanasie an diesem Ehrenmal entzündet haben in die Dunkelheit leuchten. Sehen wir dies als Zeichen der Verpflichtung, in die Grauzonen und Dunkelheiten ethischer Meinungsbildung an der Unantastbarkeit, der Unverfügbarkeit und dem unbedingten Wert jedes menschlichen Lebens festzuhalten. Und ich bin davon überzeugt, dass es dabei hilft, den im Blick und Herzen zu behalten, der allen Menschen, auch denen, die hier auf dieser Erde verlassen, verloren und vergessen wurden, zusagt: "Ich bin der Herr dein Gott. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist und bleibst mein."